Unter digitaler Minimalismus verstehen wir einen überlegten und reduzierten Umgang mit Technologie. Viele digitale Dienste sind so gestaltet und aufgebaut, dass wir möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen. Sie erfüllen keinen Zweck oder lösen ein Problem, sondern lenken uns einfach immer weiter ab.
Gleichzeitig fühlen sich immer mehr Menschen von sozialen Medien und Messengerdienste unter Druck gesetzt. Ob privat oder beruflich, oft fühlen wir uns verpflichtet, immer erreichbar zu sein. Dazu kommt der Wunsch mehr Zeit mit sinnstiftenden Dingen zu verbringen, wie Zeit mit Freunden, in der Natur oder Hobbys.
In diesem Guide soll es darum gehen, wie wir Technologie clever einsetzen können, ohne uns zu sehr stressen zu lassen. Wie können wir unsere Gewohnheit ändern und einen bewussten Umgang mit sozialen Netzwerken, E-Mails und Messengerdiensten fördern?
Der Begriff wurde vor allem vom amerikanischen Autoren Cal Newport geprägt, dem im Jahr 2018 das Buch “Digital Minimalism” veröffentlichte.
“Digital Minimalism: A philosophy of technology use in which you focus your online time on a small number of carefully selected and optimized activities that strongly support things you value, and then happily miss out on everything else.” – Cal Newport
Schon die Definition zeigt: Digitaler Minimalismus kann für jeden etwas anderes sein. Es geht darum, selbst herauszufinden: Welche Technologie stresst mich? Welche Apps bereiten mir Freude?
Vielleicht möchtest du weniger Zeit auf Instagram verbringen oder kannst abends nicht abschalten, weil E-Mails eintrudeln. Vielleicht möchtest du aber auch generell deine Internetnutzung reduzieren.
Natürlich gibt es digitale Tools und Apps, auf die wir nicht verzichten können. Ein Social Media Manager kann nicht einfach Instagram löschen und die meisten von uns können wohl auch kaum E-Mails boykottieren. Vielmehr geht es darum zu identifizieren, welche Apps bieten mir einen Mehrwert und wie kann ich sie klüger und bewusster nutzen?
Im Jahr 2017 wurde der Report “#StatusOfMind” der britische Royal Society for Public Health und dem Young Health Movement veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders Netzwerke wie Snapchat oder Instagram Depressionen und Ängste auslösen. Zusätzlich beeinflussen sie negativ unser Empfinden gegenüber unserem eigenen Körper. Auch der Schlaf leidet durch die Nutzung von sozialen Netzwerken.
Dazu kommt die schiere Zeit, die wir auf Netzwerken wie Twitter oder TikTok verbringen, die oftmals wenig Mehrwert für uns hat. Neben Social Media kommen Onlinegames, Messengerdienst und News-Apps dazu, die ständig unsere Aufmerksamkeit verlangen.
Mich persönlich hat irgendwann gestört, wie oft ich unbewusst Apps wie Instagram, Twitter oder auch Spiegel Online öffne, obwohl ich aktiv gar kein Bedürfnis befriedigen möchte. Stattdessen werden Apps zur Übersprungshandlung, sobald eine Situation langweilig oder eine Aufgabe zu schwer wird.
Digitaler Minimalismus lohnt sich dann, wenn du dich von digitalen Anwendungen gestresst oder genervt fühlst. Auch wenn du merkst, dass du zu viel Zeit in bestimmten Netzwerken verbringst, lohnt es sich, die eigene Nutzung aktiv zu hinterfragen und zu verändern.
“Heute vor genau einem Jahr habe ich alle Timelines und Social Networks aus meinem Leben verbannt. [..] Es klingt wie eine maßlose Übertreibung, aber es war auf jeden Fall eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Meine echten Freundschaften wurden besser, meine Freizeit wurde erfüllender und meine mentale Gesundheit stabiler. Ich kann mich besser auf meine Arbeit konzentrieren und gleichzeitig besser abschalten, wenn ich gerade nicht arbeite.” – Marcel, uarrr.org
Beinahe jede App, die gewinnorientiert arbeitet, möchte Nutzer so lang wie möglich in der App halten. Das aus mehreren Gründen: Je mehr Zeit, du auf einer Plattform verbringst, desto mehr
Deswegen werden vor allem Apps, die der Unterhaltung dienen, so gestaltet, dass du nicht genug davon bekommen kannst. Stories bei Instagram oder Snapchat löschen sich nach 24 Stunden, damit du Angst hast etwas zu verpassen. Bei Twitter ist der Feed unendlich, sodass du ewig scrollen könntest. Bei Youtube oder Netflix wird dir sofort das nächste Video angeboten, sobald du eines fertig geschaut hast.
Sleep is my greatest enemy.
— Netflix (@netflix) April 17, 2017
Der Begriff “Attention Economy“, also Aufmerksamkeitsökonomie, wurde schon 1971 vom Psychologen und Ökonomen Laureate Herbert A. Simon geprägt:
“In an information-rich world, the wealth of information means a dearth of something else: a scarcity of whatever it is that information consumes.”
Selbst die Gründer und ersten Mitarbeiter von sozialen Netzwerke äußern sich heute kritisch über die Dienste, die sie selbst erfunden haben. So wie Sean Parker, einer der ersten Berater von Facebook: “The thought process that went into building these applications, Facebook being the first of them, … was all about: ‘How do we consume as much of your time and conscious attention as possible?'”, verrät er Axios. Und fährt fort: “And that means that we need to sort of give you a little dopamine hit every once in a while, because someone liked or commented on a photo or a post or whatever. And that’s going to get you to contribute more content, and that’s going to get you … more likes and comments.”
Stell dir nur eine Frage: Würdest du Geld dafür bezahlen, um Instagram weiter zu benutzen? Oder für Twitter? Für TikTok?
Nein? Dann erfüllt die App, die du ständig benutzt, vielleicht keinen so großen Mehrwert oder?
Das Ziel sollte sein, die Bildschirmzeit zu reduzieren und Inhalte, die Stress auslösen zu vermeiden. Digitale Dienste sollten wir mit klarer Intention nutzen.
Apps, Profile und Newsletter löschen
Wir fangen mit dem Wichtigsten an: Trenne dich von deinem digitalen Müll!
Benachrichtigungen ausschalten
Durch Push-Notifications werden wir immer über den Tag immer wieder in Apps hineingeleitet. “Lisa gefällt dein Foto”, “Armin Laschet ist neuer Parteivorsitzender”, “Tarkan hat ein neues Video veröffentlicht”. Brauchst du diese Informationen wirklich in Echtzeit?
Ich selbst habe die Benachrichtungen von beinahe jeder App ausgeschaltet. Nur eine handvoll Anwendungen wie WhatsApp, Duolingo oder meine Banking-App dürfen mir noch Nachrichten pushen.
Add Friction: Mach das Benutzen umständlicher
Wenn auch du dazu neigst, gedankenlos Instagram oder TikTok zu öffnen und dann im Strudel gefangen bist, verlagere die Dienste einfach zurück in deinen Browser. Nicht jeder Dienst, bei dem du angemeldet bist, muss auf deinem Smartphone installiert und damit immer erreichbar sein.
Wenn dir das Löschen der Apps einen Schritt zu weit geht, kannst du dich auf deinem Smartphone wenigstens ausloggen, sodass der Besuch von Instagram, Twitter und Co mit Aufwand verbunden ist.
Entfolge Accounts, die dir ein blödes Gefühl geben
Du musst keinen Influencer folgen, die nur Werbung machen und in Luxusressorts rumhängen – es sei denn, das tut dir gut. Du musst auch keinen Prominenten folgen, nur weil sie berühmt sind. Und du musst auch keinen selbsternannten Girlbosses oder Business-Gurus folgen, weil du von ihrer Selbstdarstellung etwas lernen könntest.
Sobald du merkst, dass bestimmte Accounts dir ein blödes Gefühl geben: Entfolge oder blockiere sie. Wenn es sich dabei um Freunde oder Bekannte halten, kannst du auch einfach die Sichtbarkeit ihrer Posts einschränken, sodass sie dir weniger angezeigt werden.
The Great Unsubscribe: Entfolge jedem
Einen Schritt weiter gehst du, wenn du wirklich allen und jedem entfolgst. Allen Newslettern, Podcasts und Accounts auf Twitter, Instagram und Co. Nach diesem großen Reset fängst du erst wieder an Sachen zu abonnieren oder Accounts zu folgen, wenn du sie vermisst. Oft haben wir Sachen nur noch aus Gewohnheit abonniert und nicht, weil uns die Inhalte wirklich Freude bereite.
Antworte nicht sofort
Anders als das Telefon, bieten Messenger wie WhatsApp, Signal, Slack oder E-Mails die Möglichkeit der asynchronen Kommunikation. Umso erstaunlicher, dass viele diese Besonderheit nicht nutzen. Viele Nutzer*innen fühlen sich von Freunden, Kollegen oder Familienmitgliedern unter Druck gesetzt, so schnell wie möglich auf Nachrichten zu antworten.
Allein über WhatsApp werden täglich etwa 100 Milliarden Nachrichten ausgetauscht – unwahrscheinlich, dass all diese Nachrichten eine sofortige Antwort benötigen.
Im Freundeskreis kannst du ganz klar besprechen, dass du besser mit deiner Onlinezeit umgehen möchtest. Auch am Arbeitsplatz stellen wir die Erwartungshaltung an ständiger Erreichbarkeit vor allem an uns selbst. Wie du digitalen Minimalismus auch am Arbeitsplatz umsetzen kannst, haben wir bereits hier aufgeschrieben: Digitaler Minimalismus im Büro.
Batch Conversations
Die Idee, Nachrichten einfach zu sammeln und gemeinsam abzuarbeiten, ist vor allem durch Tim Ferris “4 Hour Work Week” bekannt geworden. Ferris nutzt als Begründung eine schöne Analogie zum Wäschewaschen. Wir waschen nicht jedes Teil, dass gewaschen werden muss einzeln. Stattdessen warten wir bis der Wäschekorb voll ist und schmeißen dann die Maschine an. Das spart nicht nur Geld, sondern auch Zeit.
Ähnlich verhält es sich mit Nachrichten. In Echtzeit auf Nachrichten zu antworten reißt dich immer wieder aus anderen Aufgaben heraus. Wenn du stattdessen mehrere Nachrichten auf einmal abarbeitest, sparst du Zeit und wahrscheinlich auch Nerven.
Offline-Zeit einrichten
Viele von uns sind fast den ganzen Tag online, erreichbar und vernetzt. Das führt dazu, dass unser Smartphone den Takt vorgibt und wir geradezu impulsiv unseren Tag planen.
Versuche dir stattdessen bewusst Offline-Zeit einzurichten. Das kann beispielsweise die erste Stunde des Tages sein, die letzte Stunde vor dem Schlafengehen oder auch der ganze Sonntag, der offline stattfindet.
Nutze die gewonnene Zeit sinnvoll
Wenn du dich mit digitalem Minimalismus auseinandersetzt, hast du dich wahrscheinlich schon öfter darüber geärgert, dass du zu viel Zeit unbedacht mit deinem Smartphone verbringst. Ich bin davon überzeugt, dass du einen bewussteren Umgang mit Technologie nur umsetzten kannst, wenn du die gewonnene Zeit sinnstiftend einsetzt.
Die handyfreie Stunde von dem Schlafengehen könntest du mit Lesen verbringen. Vielleicht musst du aber auch deine Bachelorarbeit schreiben oder möchtest mehr Zeit mit deiner Familie verbringen.
Time-Well-Spent ist eine Bewegung, die sich gegen die Aufmerksamkeitsraubende Entwicklung von Technologie einsetzt. Mitbegründer ist Tristan Harris, ehemalige Design Ethiker bei Google. Hintergrund ist die KPI “Time Spent”, die Internetunternehmen nutzen, um den Erfolg ihrer Plattform zu messen.
Harris ist kein Feind von Technologie, viel mehr möchte er, dass wir digitale Dienste bewusst und mit gezielter Intention benutzen. Instagram aufzurufen, weil wir wissen wollen, was uns Freunde machr, ist demnach kein Problem. Instagram unbewusst zu öffnen und dann gleich 20 Minuten im Sog der Aufmerksamkeit zu landen ist das Problem, das Harris anspricht.
Seitdem haben mehrere Apps und Betriebssysteme Time-Well-Spent-Tools eingebaut. Zum Beispiel Apple, Google oder die Apps Facebook oder Instagram.
Prominente wie Lorde, Emma Stone, Keira Knightley und Kelly Marie Tran verzichten gänzlich auf auf Soziale Medien. Für mich bedeutet das: Es ist Luxus, nicht auf den sozialen Medien zu sein.
“It makes me so crazy to look at social media. When you see people like, ‘This is the best life ever! I couldn’t be happier,’ you’re like, ‘Shut up, that is not true.'” – Emma Stone
“I don’t understand this need to ‘share.’ We almost exploit ourselves in order to be seen.” – Scarlett Johansson
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